Klaus Wolschner  Texte zur Geschichte und Theorie von Medien & Gesellschaft

Über den Autor

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III
Medien
-Theorie

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 Zu Herbert Marcuse

2022

Marcuse im Bad der Randgruppen-MassenHerbert Marcuse, geb. 1898 in Berlin; gest. 1979 in Starnberg) war ein deutsch-amerikanischer Philosoph. Während der  Novemberrevolution  1918/19 engagierte er sich als Mitglied eines Berliner Arbeiter- und Soldatenrates. Er studierte in Berlin Germanistik und Philosophie, ging dann  nach Freiburg zu Martin Heidegger,  fasziniert von dessen Schrift Sein und Zeit. Zur gleichen Zeit rezipierte er die damals erstmals publizierten „ökonomisch-philosophischen Manuskripte“ von Marx. In der Emigration in New York wurde er Mitglied des Instituts für Sozialforschung. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges lehrte an amerikanischen Universitäten. In den sechziger Jahren wurde er zu einem  Theoretiker auch der deutschen studentischen Protestbewegung.
     Marcuse nimmt ein Bad in der (Randgruppen-)Masse (1967)

In  seinem Buch One-Dimensional Man“ (1964 erschienenen, 1967 in der deutschen Übersetzung: „Der eindimensionale Mensch“) gibt es keinen Platz mehr für die Hoffnung auf radikale, befreiende Praxis. Das Schlagwort von der Großen Verweigerung  taucht da erst auf den letzten Seiten auf – unsystematisch angefügt. Im Sinne der Kritischen Theorie formuliert Marcuse, dass insbesondere die Technik dazu diene, „neue wirksamere und angenehmere Formen sozialer Kontrolle und sozialen Zusammenhalts einzuführen". In der fortgeschrittenen industriellen Zivilisation herrsche eine „komfortable, reibungslose, vernünftige, demokratische Unfreiheit". Eine Nichtübereinstimmung mit dem System als solchem erscheine unter den Bedingungen steigenden Lebensstandards als gesellschaftlich sinnlos. 

Unter der „Herrschaft eines repressiven Ganzen", die zu politischer und geistiger Gleichschaltung oder Konformität führe, lasse sich Freiheit in subtiler Weise und als neuartige soziale Kontrolle in ein Herrschaftsinstrument verwandeln:  „Der Spielraum, in dem das Individuum seine Auswahl treffen kann, ist für die Bestimmung des Grades menschlicher Freiheit nicht entscheidend, sondern was gewählt werden kann und was vom Individuum gewählt wird. …

Freie Auswahl unter einer breiten Mannigfaltigkeit von Gütern und Dienstleistungen bedeutet keine Freiheit, wenn diese Güter und Dienstleistungen die soziale Kontrolle über ein Leben von Mühe und Angst aufrechterhalten - das heißt die Entfremdung. Und die spontane Reproduktion aufgenötigter Bedürfnisse durch das Individuum stellt keine Autonomie her; sie bezeugt nur die Wirksamkeit der Kontrolle."

„Die Mittel des Massentransports und der Massenkommunikation, die Gebrauchsgüter Wohnung, Nahrung, Kleidung, die unwiderstehliche Leistung der Unterhaltungs- und Nachrichtenindustrie gehen mit verordneten Einstellungen und Gewohnheiten, mit geistigen und gefühlsmäßigen Reaktionen einher, die die Konsumenten mehr oder weniger angenehm an die Produzenten binden und vermittels dieser ans Ganze.  (…)  Die Erzeugnisse durchdringen und manipulieren die Menschen, sie befördern ein falsches Bewußtsein, das gegen seine Falschheit immun ist. Und indem diese vorteilhaften Erzeugnisse mehr Individuen in mehr gesellschaftlichen Klassen zugänglich werden, hört die mit ihnen einhergehende Indoktrination auf, Reklame zu sein; sie wird ein Lebensstil, und zwar ein guter - viel besser als früher -, und als ein guter Lebensstil widersetzt er sich qualitativer Änderung. So entsteht ein Muster eindimensionalen Denkens und Verhaltens, worin Ideen, Bestrebungen und Ziele, die ihrem Inhalt nach das bestehende Universum von Sprache und Handeln transzendieren, entweder abgewehrt oder zu Begriffen dieses Universums herabgesetzt werden." In der „Maske von Überfluß und Freiheit" erstrecke sich Herrschaft auf „alle Bereiche des privaten und öffentlichen Daseins, integriert alle wirkliche Opposition und verleibt sich alle Alternativen ein."

In seinem im Jahre 1969 auf deutsch erschienenen Buch „Versuch über die Befreiung“ (engl. „An essay on liberation“ erst 1971) sah Marcuse die Dinge ganz anders: Studenten, Hippies, 'drop-outs', die amerikanischen Schwarzen und die Dritte Welt bildeten in seinen Augen 'aktuell oder potentiell' ein machtvolles Befreiungs- und Praxispotential für das, was die Vernunft schon immer als Notwendigkeit vorgestellt hatte. Marcuse hatte in den „Randgruppen“ ein Surrogat für die noch schlafende Arbeiterklasse entdeckt, „jedenfalls erschien es vielen seiner Leser so." (Dutschke) Herbert Marcuse interpretierte die Selbstentfaltung des narzisstischen Individuums als  Befreiung und romantische Rebellion. 

Es ist offensichtlich, dass die „Kritische Theorie“ für die protestwilligen Studenten der 1968er sehr „unpraktisch“ war, sie passte in keiner Weise zum eigenen Lebensgefühl. Wie schnell Marcuse als Schüler von Adorno und Horkheimer das hermetische Theoriegebäude der „Dialektik der Aufklärung“  über Bord geworfen hat, ohne sich über den Wandel der theoretischen Grundlagen seines Denkens Rechenschaft abzulegen, verweist aber auch auf die wackelige Konstruktion dieses Gedankengebäudes selbst, in dem jede sozialhistorische Analyse fehlt und durch flotte philosophische Sprüche ersetzt wird. Auch die Randgruppen-„Theorie“ Marcuses war dann durch den Verlauf der Protestbewegung innerhalb weniger Jahre historisch überholt.

Auch die Anführer der studentischen Revolte hatten an der Kritischen Theorie offenbar vor die Möglichkeit der theoretischen Selbstvergewisserung geschätzt, also ihr Bedürfnis nach Autorität befriedigt. Dieses wurde dann mühelos auf orthodox-marxistische Theoretiker übertragen. Das Schweigen von Adorno und Horkheimer zur Dynamik der sowjetischen Entwicklung und zum chinesischen Stalinismus-Maoismus hatte die Tür offen gelassen für eine idealistische Rezeption der chinesischen „Kulturrevolution“, von der die akademische Elite an den Universitäten vor allem das Wort kannte und mit eigenem Wunschdenken füllte.

Inzwischen sind die Themen der Verweigerungs-Kultur in die „Kulturindustrie“ integriert, der Hedonismus der Revolte ist zur Feierabend-Kultur im Interesse einer erholsamen „work-life-balance“ geworden. Die Reklame ist zum Lebensstil geworden, aber die Individuen erscheinen keineswegs gleichgeschaltet, sie denken kreuz und quer und keineswegs, was sie sollen. Gerade diese Freiheit löst das klassische Parteiengefüge von links und rechts auf und das wird zum Problem für die Demokratie -  nicht die große Verweigerung und nicht das „richtige“, kritische, antikapitalistische Bewusstsein.

Auch die Sexualität wird in der Konsumgesellschaft ein Teil der konsumistischen Identität. Herbert Marcuse hatte in seinem Buch „Triebstruktur und Gesellschaft“ im Jahre 1955 noch leise Zweifel an der Idee herrschaftsfreier, humaner Sexualität formuliert: „Die Vorstellung von einer nicht-repressiven Triebordnung muss in erster Linie an dem ‚ordnungslosesten‘ aller Triebe – der Sexualität nämlich – geprüft werden. Eine repressionsfreie Ordnung wäre nur möglich, wenn es sich erweist, dass die Sexualtriebe, kraft ihrer eigenen Dynamik und unter veränderten sozialen und Daseins-Bedingungen, imstande sind, dauerhafte erotische Beziehungen unter reifen Individuen zu stiften.“ Marcuse erörtert die Frage anhand der Freud’schen Begriffe und kommt zu keiner klaren Antwort. In der Freud’schen Denk-Welt würde, so Marcuse, „zu einer Auflösung der Institutionen führen, in denen die privaten zwischenmenschlichen Beziehungen organisiert waren, besonders der monogamen und patriarchalen Familie”. Eine „Gesellschaft von Triebbesessenen” drohe, das bedeute eben „keine Gesellschaft”, weil die Libido weiterhin die Kennzeichen der Unterdrückung trüge. Den Ausweg aus dem Dilemma sucht Marcuse in der Utopie einer „nicht-repressiven Sublimierung”, die allerdings unter dem Regiment des Leistungsprinzips undenkbar sei.
Das Experiment, das in der 1968er Revolte unter dem unbekümmerten Motto der „freien Liebe“  gemacht wurde, hatte ein eindeutiges Ergebnis: Diese „nicht-repressive Triebordnung“ gibt es für die Sexualität nicht, „dauerhafte erotische Beziehungen unter reifen Individuen“ lassen sich nicht durch nicht-repressive, gleichberechtigte und wie auch immer „human“ gestaltete Sexualität stiften. Die Sexualität gehört zur Sphäre des biologischen Erbes, die Ideenwelt des romanischen Eros aber zur Sphäre der Kultur.
„Triebstruktur und Gesellschaft“ ist der 1965 vom Suhrkamp-Verlag gewählte Titel. Der Original-Text von Marcuse erschien 1955 in den USA unter dem Titel „Eros and Civilization. A Philosophical Inquiry into Freud“.

 

    vgl. auch
    Zu Adorno und der Kritik der Kulturindustrie   MG-Link
    Zu Enzensberger   MG-Link,
    Enzensberger, Das Nullmedium oder: Warum alle Klagen über das Fernsehen gegenstandslos sind
    MG-Link