Zu meinem Blog-Text Denken ohne Sprache (medien-gesellschaft.de)
Auszüge aus:
Dieter Lohmar, Denken ohne Sprache. Phänomenologie des nicht-sprachlichen Denkens bei Mensch und Tier im Licht der Evolutionsforschung, Primatologie und Neurologie (2016)
„Denken“ setzt die Fähigkeit voraus, sich einen Erkenntnisgegenstand vorstellen zu können, auch wenn er aktuell nicht sinnlich wahrnehmbar ist (Objektpermanenz), und aus einer solchen Repräsentation von vorhandenen Erkenntnissen neue Erkenntnisse gewinnen zu können, die einen handelnden Umgang ermöglichen. Dieses Denken bezieht sich auf Objekte – als Fähigkeit, einen Gegenstand gedanklich so zu manipulieren, dass mögliche Hindernisse entfallen oder mögliche Probleme gelöst werden können. Zum Beispiel komme ich auf den Gedanken, einen Balken so zu drehen, dass er durch einen Spalt passt. Das Denken bezieht sich auch auf die soziale Gemeinschaft – auf die Bewertung der Absichten von Anderen, die entsprechende Hilfeleistungen erfordern oder für die gemeinsame Jagd entscheidend sind. Die soziale Gruppe ist dabei hierarchisch organisiert und das erfordert andre Verhaltens-Konsequenzen, je nachdem ob der Andere in der Hierarchie höher oder tiefer steht.
Das „Medium“ des Denkens sind symbolische Repräsentanten. Mit den Symbolen kann ich bei Abwesenheit des Sachverhaltes spielen.
Wie die intelligente Tiere konnten die hominiden Vorfahren des homo sapiens, die noch keine Sprache für die Kommunikation verwendet haben, konnten „in nicht-sprachlichen Formen der Repräsentation denken“ (Lohmar). Dieses „Denken ohne Sprache“ bildet eine Unterschicht des sprachlichen Denkens. Szenische Phantasmen (innere Bilder) und Gefühle sind die nicht-sprachlichen Repräsentanten im menschlichen Bewusstsein. Vieles, was uns in sprachlicher Form bewusst wird, gründet im nicht-sprachlichen Denken. Besonders deutlich ist das bei Gefühlen – Abneigung, Angst, Liebe -, bei denen die sprachliche Beschreibung versagt, obwohl sie sehr deutlich im Bewusstsein sind. Für das konkrete, leibnahe Denken scheint die Sprache eher das Medium zu sein, durch das vorhandene Empfindungen oder Schlussfolgerungen anderen mitgeteilt werden können, insofern auch ein Medium der Selbst-Beschreibung. Die nichtsprachliche symbolische Repräsentation ist eine wichtige Basis für die sprachlichen Symbole. Erst die abstrakten Begriffe entfernen sich von dieser Basis.
Weder Affen noch Menschenaffen haben ein Bewusstsein davon, was sie wissen und was ihr Gegenüber nicht weiß. Sie stoßen Warnrufe aus ohne zu wissen, ob ein anderes Tier in der Nähe ist, das die Gefahr nicht erkannt hat. Intelligente Verhaltensweisen von Affen sind auf eine bestimmte Situation bezogen, sie sind meist nicht in der Lage ihre Verhaltensstrategien auf andere Situationen zu übertragen. Affen lernen nur durch Zusehen und Nachahmung.
Das Selbst-Bewusstsein des eigenen Wissens setzt offenbar schon Sprache voraus.
Die Laut-Sprache stellt ein öffentlich kommunizierbares Repräsentations-System zur Verfügung, das nicht nur sehr viel differenziertere Denk-Formen ermöglicht, sondern auch den Austausch von Gedanken. Die Sprache ist daher die Grundlage der kulturellen Evolution des Menschen (Michael Tomasello, ratchet-effect).
Nichtsprachliches Denken in der Evolutionsgeschichte des Menschen
Schimpansen sind Lebewesen, die im Regenwald in einem naturgegebenen Überfluss leben. Sie müssen sich weniger um ihre Nahrung sorgen, sie widmen sich ausgiebig gruppeninternen Problemen. „Man könnte sie Spezialisten der konkurrierenden Sozial- und Sexualstrategien nennen.“ (Lohmar)
Bewohner der Savannen, also auch die Vorläufer des heutigen Menschen, mussten Strategien zum Umgang mit Orten, Material und Werkzeug entwickeln, um ihre Ernährung sicherzustellen. Es gab andere Notwendigkeit zur Kooperation. Expertenwissen über die materielle Welt und die kausalen Beziehungen zwischen Dingen war in der Savanne wichtiger als in der Lebensumwelt Urwald.
Die Schimpansen zeigen eindrucksvolle Intelligenzleistungen auf sozialem Gebiet und kooperieren selten zur Erlangung von attraktiver Nahrung.
Die frühen Hominiden haben ihren Lebensraum verlassen und die ganze Erde besiedelt, sie mussten – und wollten offenbar – sich an ganz unterschiedliche Lebensumwelten anpassen und neue Risiken bewältigen. Allein die Klimaschwankungen erfordern vorausschauendes Denken auf Grundlage zurückliegender Erfahrungen, umfangreiche Kooperation und soziale Institutionen sowie kommunikative Weitergabe von Expertenwissen bei der Planung der Ernährung voraus. Neues Wissen zur Beurteilung der gefundenen Nahrung in der neuen Umgebung (Pilze, Beeren usw.), zur Bestimmung der Lage von Fundstellen, der medizinischen Nutzpflanzen, der Beurteilung und Behandlung von Krankheiten musste gesammelt und weitergegeben werden. Für Urwald- und Savannen-Bewohner gibt es keine Notwendigkeit, über den Schutz vor der Kälte oder die Bildung spezieller haltbarer Vorräte nachzudenken. Solche Herausforderungen stellen hohe Ansprüche an die Verlässlichkeit der Gruppe.
Moral und intelligentes Verhalten bei Tieren
Ein charakteristisches Beispiel für „Moral“ bei Primaten ist die Regel, dass gefundenes Futter der ganzen Gruppe zu melden ist, obwohl in der Regel zuerst die Ranghöheren fressen dürfen. Was tut ein rangniedriges Individuum, wenn es glaubt, nicht beobachtet zu werden? Wenn es sich der Moral fügt, dann sicherlich aufgrund assoziativ vorschwebender innerer Bilder wütender hochrangiger Mitglieder der Gruppe, die abweichendes Verhalten durch Prügel sanktionieren.
Es ist beobachtet worden, wie die Fellpflege zur Täuschung eingesetzt wird – um das Vertrauen eines misstrauischen Gruppenmitgliedes zu erschleichen und dann die attraktiven Nahrung wegzunehmen.
Bei Affen sind auch Täuschungen beobachtet worden, etwa falsche Warnrufe, die andere von der begehrten Nahrung weglocken sollen. Jugendliche Tiere, das einen Warnruf falsche verwenden, werden dabei meist nachsichtiger oder milder bestraft.
Selbstbewusstsein
Affen, die in Gemeinschaften leben, haben nicht nur ein ausgezeichnetes Verständnis für – wechselnde – Hierarchien, sondern auch ein szenisches Selbst-Bewusstsein für das, was ihnen passiert ist – von wem sie zum Beispiel verprügelt wurde oder wer einen guten Verwandten verprügelt hat. In ihrem Gefühl gegenüber dem Missetäter – Angst oder Wut – geht ihre „Lebenserfahrung“ ein, die haben eine sinnlich vermittelte und an den Körper gebundene Form von Selbst-Bewusstsein. Sie können dem Täter ausweichen oder sich rächen. Sie können auch ihre äußere Erscheinung bewusst manipulieren – etwa humpeln, um einen Angriff zu vermeiden.
Temple Grandin oder: Wie Autistinnen denken
Temple Grandin (geb. 1947) wurde sehr früh als Autistin diagnostiziert. Bei Menschen mit Autismus-Störungen ist die Fähigkeit, Sprache gezielt einzusetzen, um etwas Bestimmtes auszudrücken oder zu bekommen, oft beeinträchtigt. Grandin hat viele Aufsätze und Vorträge zum Thema Autismus verfasst und lehrt Tierpsychologie an der Colorado State University. Sie zeigt viele Fähigkeiten, die wir ‚Normalen‘ ebenfalls besitzen, aber einige davon sind besonders stark ausgeprägt.
Ihre Autobiographie beginnt mit den Worten:
„Ich denke in Bildern. Worte sind für mich wie eine zweite Sprache. Ich übersetze sowohl mündlich als auch geschriebene Wörter in Vollfarbfilme, komplett mit Ton, die wie ein Videorekorder in meinen Kopf. Wenn jemand mit mir spricht, werden seine Worte sofort in Bilder übersetzt. Sprachorientierte Denker finden dieses Phänomen oft schwer zu verstehen."
Aber Begriffe wie „Ding“ oder „Etwas“ sind kaum in Bildern zu fassen, Bilder stellen gewöhnlich bestimmte Gegenstände dar. Grandin nennt als Beispiel das Wort „Elemente“ oder Eigenschaften wie „schön“, „trocken“ oder „brauchbar“. Wie kann man Begriffe wie Frieden, Ehrlichkeit, Macht, Ehre, Wille visualisieren?
Frieden stellt sich Grandin als Taube vor oder als eine indianische Friedenspfeife, oder als Filmaufnahme der Unterzeichnung eines Friedensvertrages. Ehrlichkeit wird durch das Bild einer Person, die ihre Hand im Gerichtssaal auf die Bibel legt, dargestellt. Macht und Ruhm Gottes werden durch einen Regenbogen und einen Hochspannungsmast (electric tower) dargestellt. Der Wille Gottes wird durch einen Gott dargestellt, der einen Blitz schleudert.
Gefühle, so Grandin, sind bei Autisten anders organisiert. Gefühle sind mehr an Orte als an Personen gebunden. Mitgefühl mit anderen Personen visualisiert Grandin als Bild von einer Person mit konkreten Sorgen.
Die Rinder-Expertin Temple Grandin glaubt, dass auch Tiere in Bildern denken - ebenso wie sie selbst. Tiere wie einige Autisten verfügen über ein hervorragendes optisches Gedächtnis und können viele Einzelheiten einer Situation visuell memorieren. Grandin merkt sich den Platz ihres Wagens auf einem großen Parkplatz wie Eichhörnchen, die sich die Lageplätze der vielen hundert Nüsse einprägen, die sie für den Winter verstecken.
Sowohl Autisten wie denken zudem Tiere in Details. Spiegelungen von Licht auf einem nassen Boden oder eine sich bewegende Kette ängstigen Rinder, ein Gitter auf dem Boden hindert sie wie eine unüberwindliche Schranke am Weitergehen. Autisten haben zudem, so Grandin, eine starke Sensibilität für Töne. Autisten empfinden zudem eher eindeutige Gefühle, sie sind glücklich, ärgerlich, ängstlich oder traurig, sie scheinen aber nicht komplexe „gemischte Gefühle“ zu empfinden. Dominant ist Furcht als primäre Emotion.
Menschen, die nicht über Sprache verfügen, kommunizieren mit Blicken, mit Gestensprachen, mit Händen und Füßen. Sie verbinden die Worte, die sie hören, mit einzelnen Bildern oder mit bewegten Szenen.
Um diese Form des assoziativen Bild-Denkens plausibel zu machen, verweist Lohmar auf die Tagträume, die einen erstaunlich großen Teil unseres Bewusstsein-Stromes ausmachen. Tagträume handeln von wunscherfüllender Lust, von Furcht und Wut, also von Basis-Emotionen. In den Szenen der Tagträume erproben wir mögliche Handlungsoptionen, wir „spielen sie durch“. Insofern handelt es sich um „Kino im Kopf“.
In diesen Episoden unserer Tagträume treten die sprachlichen Ausdrücke in den Hintergrund zu Gunsten von bildhaften Elementen. Es gibt verschiedene empirisch-psychologische Untersuchungen über die Sex-Tagträume von Männern (Symons et al.). Es gibt aber auch Angst-Tagträume oder Erfolgs-Tagträume. Anders als die nächtlichen Träume respektieren die Tagträume die Identität, Kausalität und Zeitordnung von Ereignissen.
Tauben
Die Ergebnisse solcher Experimente sind oft überraschend, denn manchmal gelingt es den scheinbar so einfachen Geistern der Tiere, Vergleichsgruppen von Studenten zu übertreffen. So erkennen Studenten und Tauben die Fotos, auf denen Gesichter von Menschen zu sehen sind, zwischen anderen Fotos etwa gleich zuverlässig, wobei die Tauben meist etwas schneller sind.45 Wenn sie sich sicher sind, dass es ein menschliches Gesicht auf dem Bildschirm gibt, dann drücken sie eine bestimmte Taste. Interessanterweise bleibt die Verlässlichkeit und Geschwindigkeit der Tauben aber auch auf demselbenNiveau, wenn die Fotos „verwürfelt“ werden.
Das heißt: Zuerst teilt man das Foto in vier Sektoren, die dann zufällig vertauscht werden, dann in acht, sechzehn usw. Die Studenten ließen mit jedem Schritt der Verwürfelung jedoch immer weiter nach, bis sie schließlich nicht mehr in der Lage waren, Gesichter zu erkennen, wo die Tauben noch keinenAbfall in der Erkennungsleistung zeigten. Das zeigt deutlich, dass in diesem Fall Tauben etwas anderes tun als Menschen, und zwar auch dann, wenn es sich scheinbar um dieselbe Erkenntnisleistung handelt. In diesem Fall stellte sich heraus, dass die Tauben lediglich auf das Vorliegen einer bestimmten Farbe, d. h. der Hautfarbe von Mitteleuropäern, reagierten, wogegen die Studenten menschliche Gesichter mit komplizierteren Verfahren identifizierten, die auch den normalen Umriss eines Gesichts, die normalen Proportionen zwischen Mund, Nase
und Augen einschließen. Man könnte also vermuten, dass Menschen hierbei eine konzeptuelle Methode der Erkenntnis verwendeten. Dennoch ist nicht sicher, dass hier Sprache im Spiel war oder lediglich so etwas wie sedimentiertes Wissen über die normale Erscheinungsweise eines menschlichen Gesichts in der Form eines Typus.
Es drängt sich also die Einsicht auf, dass dieselben Leistungen gelegentlich bei Tieren auf einfache und zuverlässige Weise mit einer Low-level-Methode gelöst werden, die im einfachsten Fall lediglich sinnlicher Empfindungen als Grundlage bedarf.
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