Medien als Körperausweitung – wofür brauchen wir sie?
Zwischen Kohlenstoff-Leben und Cyber-Kultur
2025
Der menschliche Körper besteht wie Pflanzen zu über 50 Prozent aus Wasser. Aber bei dem organischen Material, bei den Zellen, den Proteinen, der DNA spielen Kohlenstoffverbindungen die Hauptrolle. Leben auf der Erde ist chemisch gesehen eine raffinierte Verknüpfung von Kohlenstoffverbindungen. Fette und Zucker enthalten Kohlenstoff, Proteine und Nukleinsäuren – die Träger des Lebens – sind ohne Kohlenstoff nicht denkbar. Kohlenstoffe in der Chemie machen den Unterschied zwischen „anorganischen” und „organischen” Verbindungen. Und auch das Gehirn enthält - abgesehen vom Wasser - hauptsächlich Kohlenstoff-Verbindungen.
Auf diese Tatsache bezieht sich die Metapher von der Kohlenstoff-Welt. Der Mensch überschreitet die Kohlenstoff-Welt vor allem durch seine Phantasie. Die Verwandlung von Kohlenstoff in Geist begann mit der Welt der Götter. Archaische Mythen erzählen davon. „Avatare“ sind im Hinduismus die Verkörperungen von Göttern, die auf die Erde hinabsteigen. In der modernen digitalen Cyber-Kultur phantasieren Menschen sich selbst als Avatare und die Avatare können elektronisch sichtbar gemacht werden.
Das Wort „Cyber“ kommt von dem englischen Wort „cybernetics“ und benennt inzwischen die von Computern erzeugten virtuelle Welt. Cyber-Kultur kennzeichnet die Art und Weise, wie wir kommunizieren, arbeiten und leben. Online-Communities und digitale Identitäten sind Teil der „Cyber“-Kultur – die Phantasie ist grundsätzlich die alte, die computertechnisch erzeugten Bilder sind neu.
Evolution der Körperausweitungen
Die kulturelle Evolution des Menschen begann nicht mit der phantasievollen Kreation der Avatare, sondern mit dem Faustkeil. Der Faustkeil ist ein Mittel, ein Medium, und wie jedes Medien verändert er die Erfahrung der eigenen Leiblichkeit. Der Faustkeil ist ein Werkzeug und damit eine materielle Körperausweitung. Der frühe „homo sapiens“ war dem Neandertaler leiblich unterlegen, mit seinen Distanz-Waffen wurde er überlegen.
Werkzeuge sind Medien der Körperausweitung – und Gedanken. Die Sprache begann als Ergänzung und Ersatz zum Kraulen bei der Pflege der Gemeinschaft. (Robin Dunbar, siehe MG-Link). Die Differenzierung der Sprache ermöglichte dem homo sapiens, ein Universum der Gedanken zu entwickeln. Mit ihren Göttergeschichten erzählten sich die Menschen ihre Erfahrungen vom Ausgeliefertsein und von der Herrschaft über andere Tiere und Naturgewalten. Die Sprache war das Medium, das dem Menschen ermöglichte, in der Phantasie das leiblichen Hier und Jetzt zu überschreiten. Die jüdische Tradition erzählt vom Machtkampf der Sippen als Konkurrenz der Götter – der eine hatte sein „Du sollst keine anderen Götter haben neben mir“ in Steinplatten gemeißelt, der andere wollte die Menschen mit dem goldenen Kalb beeindrucken.
Mit den Bild-Statuen wurden diese Phantasien vorstellbar gemacht. Das Sehen, das als intuitive leibgebundene sinnliche Erfahrung begann, und wird durch die Bild-Artefakte zur Schau des Immateriellen. Die virtuellen Räume waren immer Produkte der Phantasie in Anlehnung an reale Räume, durch die Bild-Artefakte wird das Vor-Gestellte kontrollierbar – das goldene Kalb soll zerstört werden und mit dem Kalb wird der fremde Gott und damit die Macht der fremden Sippe zerstört. In dem Abbild liegt die Kraft des Abgebildeten, die Herrschaft über das Abbild suggeriert die Herrschaft über das Abgebildete.
Auch die Schrift begann als machtvolles Abbild, gemeißelt in Stein. Zur Gedächtnisstütze wurden Schriftzeichen durch die Praxis der Kaufleute. Mit der antiken griechischen Kultur wurde die Schrift zum Medium des Sinnierens und prägte die Prinzipien des logischen Denkens, dass nach dem Zerfall der römischen Stadtkultur in der besonderen Institution der Klöster und der theologischen Spekulationen tradiert wurde.
Neu-Zeit
Mit der Verbreitung der Technik des Holztafel- bzw. Holzblock-Druckes für Strich-Bilder und Buchstaben und der Gutenberg’schen Erfindung des Schrift-Druckes mit beweglichen Lettern im Europa des 15. Jahrhunderts beginnt das Zeitalter der massenhaften Verbreitung von technisch produzierten Bildern und Schriftbildern. Die Reformation gibt einen Vorgeschmack darauf, dass Bilder nicht mehr zwingend Herrschaftsbilder sind, eine gesellschaftlich neue Ära des Bild-Handelns beginnt.
Gleichzeitig wurden mit dem Fernrohr (seit 1608) und der Verbreitung der Lupe (als optische Vorrichtung erfunden von Abu Ali al-Hasan (Alhazen) im „Schatz der Optik, 11. Jahrhundert) die Grenzen des menschlichen Auges überwunden. Während die menschlichen Sinne an einen „Mesokosmos“ gebunden sind, bestätigen die neuen technischen Vorrichtungen gleichsam die Phantasie – der „Weltraum“ wird sichtbar, Feuer lässt sich (mit dem Brennglas) durch die Luft verbreiten und der natürlich undurchsichtige Leib wird in seinen Funktionen durchsichtig. Der Blick mit technischen Augen erschließt einen Mikro- und Makrokosmos. Diese Erweiterung des menschlichen Gesichtsfeldes erweitert Welt- und Menschenbilder. Neue Medien leben immer von einer imaginären Wahrnehmungswirklichkeit, neue Medien versprechen Unerfülltes, Unerreichbares.
Digitalisierung – „The Medium ist the Message“
So wie der Buchdruck als Medium die Welt verändert hat, so verändern auch die elektrischen Medien die menschliche Welt und die Kommunikationskultur, „weil eben das Medium Ausmaß und Form des menschlichen Zusammenlebens gestaltet und steuert“. Das hat der Medientheoretiker Marshall McLuhans mit seiner klassischen Formel „The Medium ist the Message“ ausgedrückt. Im Aufkommen der Elektrizität sah McLuhan den Anfang eines neuen Zeitalters. „Die ‚Botschaft’ jedes Mediums oder jeder Technik ist die Veränderung des Maßstabes, Tempos oder Schemas, die es für die Existenz des Menschen mit sich bringt.“ McLuhan begriff die Medien als „extension of man". Medien schaffen neue symbolische Ebenen und generieren völlig neue Umwelten - „The new media are not bridges between man and nature, they are nature". Medien geben die Wirklichkeit nicht wieder oder vermitteln sie, sondern definieren diese erst.
Für den griechischen Mythen vom Fliegen (Daidalos) und noch bei Johannes Keplers Traumerzählung über eine Reise zum Mond (1609) war viel Phantasie erforderlich – die Digitalisierung des Bildung-Handelns führt den Flug durch das Weltall vor Augen so wie man virtuell durch Berlin spazieren gehen kann.
Die neue Technik verändert das Bild von der Welt. Schon die Fotos vom Sputnik (1957) haben die Welt als Erdkugel, als „eine Welt" vor Augen gestellt und damit dem Spiel der Phantasie als beherrschbare Wirklichkeit preisgegeben. Der Weltraum wurde zum normalen Ort für Fantasy-Filme.
Schon die Fernsehbilder lieferten uns die Gesichter zahlloser Personen, die wir nie persönlich sehen könnten. Mit der Digitalisierung der Bilder machen wir die Erfahrung, dass wir uns permanent selbst sehen können – und müssen. Die Medientechnik liefert uns mit dem „Selfie“ einer permanenten Selbstwahrnehmung aus und führt zu einem Selbst-Optimierungszwang, weil wir uns (unser Bild) permanent als Show inszenieren. Der „Rest“ des Leibes besteht nur noch in seinem Leiden und Sterben.
Die Technologien der Körperausweitung beginnen mit den Distanz-Sinnen. Wir müssen nicht mehr „da“ sein, um zu sehen. Unser Bild-Gedächtnis ist geprägt von den Fotos und Filmen, wir erkennen Personen und Landschaften nach den Bildern, die wir kennen. Datenbrille und der Datenhandschuhe erweitern das individuelle Gehirn mit dem Zugang zum weltweiten Computer-Netzwerk. Musik ist digital überall verfügbar, unser Ohr beurteilt Klänge nach den gespeicherten Aufnahmen. Lautsprecher und Telefon werden zu selbstverständlichen Körperausweitungen der Stimme und das Hörgerät wird so selbstverständlich wie die Brille.
Taktile und auch Geruchswahrnehmungen bleiben zunächst Stiefkinder der Technisierung, aber die Wissenschaftler arbeiten an „Tele-Taktilität“ – körperliche Nähe soll keine Frage der räumlichen Nähe mehr sein. Eingesperrt in den Anzug wäre man den virtuellen „Berührungen“ des anderen preisgegeben. Der Dialog der Körper wird über Gehirn-Computer-Schnittstellen simuliert.
Auch hier optimiert die Technik nur, was die Phantasie immer schon konnte. Auch klassische Erotik vernetzt direkte körperliche Nähe der Haut mit der erotischen Imaginationen – die Liebe vergegenwärtig, was leiblich nicht da ist, mit Bildern, Gerüchen, Klängen und Worten. Das ist durchaus menschlich und hat mit den Inszenierungen der Balz seine Vorstufe im Tierreich.
Siehe auch meine Blog-Texte: Zu Mcluhan MG-Link Elektrische Medien MGLink Sehen der Moderne - Neue Bilder in der neuen Medienkultur MG-Link Geschichte des Sehens und Kulturgeschichte des Bildes MG-Link Über die Realität der medialen Fiktion MG-Link Das Gehirn spinnt Sinn - Gehirngespinste MG-Link Selbst im Netz MGLink Kraft der Bilder - Unser Gehirn liebt die virtuelle Realität: Herrschafts-Bilder, Bilder für Unsagbares MG-Link Bilder im Kopf - Über die neurologisch vermittelte Realitätswahrnehmung MG-Link Bild gegen Schrift - Wortfetischismus und die Klagen der Schriftkultur über die Macht der Bilder MG-Link Reizflut, Reizschutz, Inhibition, Neurasthenie MG-Link Aufmerksamkeit - über Neurologie und Soziologie einer knappen Ressource MG-Link
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