Klaus Wolschner         Texte zur Geschichte und Theorie von Medien & Gesellschaft

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zu den Abschnitten

I
Medien-
Geschichte

 

2 AS Cover

Wie wir wahrnehmen,
was wir sehen: Augensinn, Bildmagie
 

ISBN 978-3-7418-5475-0

2 VR Titel

Über die Mediengeschichte der Schriftkultur und ihre Bedeutung für die
menschliche
Wirklichkeits-Konstruktion im  Jahrhundert des Auges


ISBN 978-3-7375-8922-2

POP 55

Über traditionelle Herrschafts-Kommunikation
und neue Formen der Medien-Demokratie:
Wenn der Pöbel
online kommt

ISBN: 978-3-752948-72-1

2 GG Titel

Über religiöse Körpergefühle und die kommunikative Kraft
der großen Götter von Christentum, Islam und Moderne

ISBN 978-3-746756-36-3

 

Wir-Ich Titel kl2

Neue Medien,
neue Techniken des
Selbst:
Unser digitales Wir-Ich

ISBN: 978-3-754968-81-9

 

Radiorevolution 

Auszüge aus: Frank Trentmann, Herrschaft der Dinge. Die Geschichte des Konsums vom 15. Jahrhundert bis heute (2017)

„Wir betreten die Ära der Wohnzimmersuite, der Waschmaschine, des Radios und des Hausbesitzes. … Das Radio und das Grammophon öffneten sie einer neuen Welt der Unterhaltung und des Klangs.“ (299)

„Die Vereinigten Staaten bildeten die Speerspitze der Industriellen Revolution im Haushalt. In den 1920er Jahren erlebten neue Haushaltstechnologien einen rasanten Aufschwung. Am Ende des Jahrzehnts waren 18 der 27 Millionen Haushalte des Landes ans Stromnetz angeschlossen, 15 Millionen besaßen ein elektrisches Bügeleisen, 7 Millionen einen Staubsauger und 5 Millionen eine Waschmaschine. In der obersten Einkommensschicht hatten 92 Prozent ein Bad, 63 Prozent ein Radio und 83 Prozent ein Auto.“ (329)

„1964 wurde bei einer Umfrage in Westdeutschland festgestellt, dass es in 41 Prozent der Wohnungen nur eine einzige und in 4 Prozent überhaupt keine Steckdose gab. Außerdem waren die häuslichen Stromkreise häufig mangelhaft. »Ist das >Komfort<, wenn man das Radio abstellen muss, um ein  Bügeleisen anschließen zu können«, fragte ein Zeitgenosse.“ (332)

„Radio zu hören, während man wäscht und gleichzeitig die Kinder im Auge behält, ist etwas anderes, als eine einzige Aufgabe zu erledigen oder die anstehenden Arbeiten nacheinander auszuführen, auch wenn   der totale Zeitaufwand der gleiche ist. Die Haushaltsrevolution war für die Herausbildung neuer simultan durchgeführter Arbeitspraktiken vielleicht ebenso bedeutend, wie sie es für einen neuen Umgang mit der Zeit war. Auch schichtenspezifische und regionale Unterschiede werden von Gesamtsummen nicht wiedergegeben.“ (346)

Das Radio bringt neue Traumwelten in die Wohnzimmer

„Die Konsumrevolution im Heim war ebenso eine des Ohres wie der Hand. Insbesondere westliche Kulturen hatten lange das Sehen als bedeutendsten Sinn betrachtet, und in früheren Epochen war der Konsum vor allem durch visuelle Stimulantien verbreitet worden, durch Mode, Schaufensterdekorationen und die Lichter der Stadt. Grammophon und Radio fügten den auditiven Reiz hinzu. Sie öffneten den Menschen buchstäblich die Ohren. So wie sich der Kult von Sauberkeit und Hauswirtschaft nach innen richtete, öffnete das Radio die Perspektive nach außen und brachte neue Traumwelten in die Wohnzimmer der Menschen. Ursprünglich waren Grammophon und Radio nicht als Apparate für die heimische Unterhaltung gedacht. Der Phonograph, den Thomas Alva Edison 1877 der Öffentlichkeit präsentierte, und andere frühe Grammophone dienten verschiedenen Zwecken; man benutzte sie zum Diktieren, zur Aufnahme von Zeugenaussagen, und um die Stimmen seiner Liebsten zu konservieren. 1890 warb die Columbia Phonograph Company damit, dass ihre Apparate Komponisten auf neue Ideen bringen würden, da sie mit ihrer Hilfe Musik rückwärts abspielen könnten. Das französische Unternehmen Pathe stellte Musikautomaten auf, an denen man für 15 Centime ein Lied hören konnte. Die britische Gramophone Company und die amerikanische Victor Talking Machine Company (Victor Records) hatten schon 1903/04 in Singapur und Mexiko  Schallplattenstudios eröffnet. Claude Debussy war von dem Versprechen auf Unsterblichkeit so beeindruckt, dass er im Pariser Studio Auszüge aus seiner Oper Pelleas et Melisande aufnahm. In Massen produzierte Schallplatten begannen schon vor dem Ersten Weltkrieg die Wachszylinder zu verdrängen. Aber noch 1918 konnten nicht mehr als drei Oktaven aufgenommen werden.

Der Durchbruch kam in den 1920er Jahren. 1927 wurden in den Vereinigten Staaten 104 Millionen Schallplatten verkauft. Startenor Enrico Caruso allein spielte Victor 2,5 Millionen Dollar ein. Manche Künstler befürchteten, der heimische Plattenspieler bedeute das Ende des öffentlichen Musiklebens. Tatsächlich passierte das Gegenteil. Grammophon und Radio stärkten die Nachfrage nach Livemusik, indem sie Lust auf  Charleston, Black Bottom und andere Modetänze machten, die man zu Hause üben konnte. In Malaya nutzte die Schallplattenindustrie Großveranstaltungen, um für die enorm beliebte Miss Soelami zu werben, die »unbestrittene Keronchong-Meisterin von ganz Java«.124

Die Verwandlung des Radios von einem Bastelgerät für Jungen in einen Unterhaltungsapparat für die ganze Familie war noch dramatischer. Zwischen 1901, als Guglielmo Marconi erste Funksignale über den Atlantik schickte, und dem Ersten Weltkrieg beschäftigten sich Jungen zu Tausenden mit dem Bau von Einkreis-Geradeausempfängern und sendeten Morsesignale. 1920 gelang es dem fünfzehnjährigen Harold Robinson, aus seinem Elternhaus in New Jersey ein Signal nach Schottland zu senden.

Anfang der 1920er Jahre war ein Radio ein selbstgebauter Detektor mit Kopfhörer. Es war ein Hobby für Funkamateure und Schullehrer. Jungen sparten, um sich im örtlichen Billigkaufhaus die nötigen Teile zu kaufen.

1922 gab es in den Vereinigten Staaten rund sechshunderttausend Radiobastler.125 Amerikanische Kinder betrieben schätzungsweise zwanzigtausend Sender im Niederfrequenzbereich. In Göteborg und anderen europäischen Städten gab es Radioklubs mit Tausenden von Mitgliedern. In vielen Schulen auf beiden Seiten des Atlantiks wurde eifrig gesendet. In Preußen beteiligte sich fast die Hälfte der Schulen am Schulfunk, der Schülern ein recht ausgewogenes Programm mit Musik, Literatur, Geographie und Sprachen nahebrachte; die Empfangsgeräte gehörten häufig den Lehrern.126 In den USA boten Universitäten und Agrarhochschulen »Radiocolleges« an. Das Radio sei ein konkurrenzloser Lehrer, erklärte der amerikanische  Bildungskommissar John J. Tigert 1924. Es wecke nicht nur das Interesse an der Welt, sondern erteile »Lektionen in Sparsamkeit, Handwerksarbeit und Wissenschaft, die auch die besten Lehrer im Land mit Neid erfüllen« könnten.127

Eine Heimwerkerseite in einer Luxemburger Zeitschrift für Radiofreunde aus dem Jahr 1932 vermittelt einen Eindruck davon, welcher Fähigkeiten und Selbstsicherheit es bedurfte, um einen Empfänger mit drei Röhren und Lautsprecher zu bauen. Um abends die Sender Straßburg und Rom hören zu können, brauchte man eine mindestens 25 Meter lange und 10 Meter hohe Außenantenne mit mindestens 120 Volt. War die Lautstärke zu gering, wurde empfohlen, Bleistift oder Radiergummi zu benutzen, um Graphit zu den Widerständen der Niederfrequenzstufen hinzuzufügen oder von ihnen zu entfernen. Wie man in dem Laurel-und- Hardy-Film Panik auf der Leiter von 1930 sehen kann, war allein schon die Errichtung einer Antenne voller Tücken. Aus batteriebetriebenen Radios sickerte regelmäßig Säure auf Anrichten und Teppiche. Erst in den späten 1920er Jahren kamen ans Stromnetz anschließbare Modelle auf den Markt, wie 1927 das Radiola 17, und wurden externe Kabel, Röhren und Lautsprecher in einem polierten Mahagonigehäuse wie dem des Telefunken Super 653 von 1931 zusammengeführt (siehe Abbildung 33). In dieser glänzenden Hülle stand das Radio jetzt neben anderen  Einrichtungsgegenständen und ermöglichte mit seinen einfach zu bedienenden Reglern der ganzen Familie ein bequemes Hörvergnügen. Das Bastelobjekt von Knaben und Männern war bereit, vom Dachboden ins familiäre Wohnzimmer umzuziehen.128

Das Ausmaß der Radioexplosion in diesen Jahren ist kaum zu übertreiben. 1925 gab es in Dänemark und den Niederlanden jeweils weniger als 25000 Empfänger. 1936 waren es 660000 beziehungsweise 940000. Das war fast ein Apparat pro Haushalt, ähnlich wie in den Vereinigten Staaten, wo auf sechs Personen ein Apparat kam; in Argentinien besaß 1938 jeder zehnte Einwohner ein Radio.129 Nach einer Anfangszeit des individuellen Hörens wurde das Radio gesellschaftsfähig. Im Mittelpunkt des Gemeinschaftserlebnisses stand die Familie, und je mehr Mitglieder sie hatte, desto mehr Stunden wurde täglich Radio gehört.130 Aber das Radiohören blieb nicht aufs Wohnzimmer beschränkt. Ganz im Gegenteil: In den späten 1920er Jahren warben Ozark und andere Hersteller für tragbare Geräte: »Zelten, angeln, jagen, wandern mit Radio. Machen Sie den Urlaub vollkommen.«131

Vor allem die Nachbarschaftsbeziehungen wurden durch das Radio und kollektives Hören gestärkt. Radiohörer wurden aufgefordert, ihren Apparat zu Nachbarn oder ins Büro mitzunehmen: »Wo ein Radiola ist, gibt es keine Einsamkeit.« Heinrich Weber aus Hildesheim erinnerte sich, wie sein Vater ihm Anfang der ig3oer Jahre, als er noch ein kleiner Junge war, den Auftrag gab, das Radio ins Fenster zu stellen, damit die Nachbarn mithören konnten. In South Carolina sorgten die ersten Radiobesitzer für die Unterhaltung ganzer Städte.132

Grammophon und Radio bewirkten überall auf der Welt eine Umwälzung der Klanglandschaften und eine neue Lärmempfindlichkeit. Man brauchte bloß den Einschalter zu betätigen, und schon waren Stille und Einsamkeit verschwunden. Neben geteilter Freude bedeutete das Radio aber auch schlaflose Nächte. 1934 verbot der Stadtrat von Singapur, nach Mitternacht Grammophon- oder Radiomusik zu hören, es sei denn, es war von der Polizei erlaubt worden.133 Aber auch die andere Seite konnte stören. Die damaligen Transformatoren waren so empfindlich, dass der Empfang beeinträchtigt werden konnte, wenn ein Nachbar ein elektrisches Gerät einschaltete. Zeitgenössischen Untersuchungen zufolge wurde ein Drittel der vielen Tausend gemeldeten Empfangsstörungen von Privathaushalten verursacht. Manche Nachbarn führten mit ihren neuen elektrischen Waffen einen regelrechten Lärmkrieg. Dänemark erließ als eines der ersten Länder 1931 ein Gesetz zum Schutz von Radiohörern. In Deutschland wurden natürlich Bußgelder für Leute eingeführt, die absichtlich Bügeleisen oder Staubsauger einschalteten, um Nachbarn in ihren Hörgewohnheiten zu stören. 134

Das Radio veränderte das Alltagsleben in einer Weise, die alles überstieg, was frühere Revolutionäre mit Kleiderreformen und anderen von oben verfügten Maßnahmen zu erreichen gehofft hatten. Die Menschen passten ihren Tagesablauf an, um ihre Lieblingssendungen zu hören. Vergeblich riefen Geistliche zum Boykott von Sonntagabendsendungen auf.135 Öffentliche Rundfunkanstalten wie die 1922 gegründete British Broadcast Corporation (BBC] führten Kinderstunden ein, um die künftigen Staatsbürger heranzubilden. Da das Radiohören leicht mit häuslichen Arbeiten einhergehen konnte, brachte es etwas Freude in den Alltag. »Bei munterer Jazzmusik«, schrieb eine Frau 1925, »erscheint das Geschirrspülen nicht mehr als Plackerei und geht viel flotter von der Hand.«136 Insbesondere für Menschen mit geringer Bildung und niedrigem Einkommen wurde das Radiohören zur beliebtesten Freizeitbeschäftigung. Aber auch nahezu die Hälfte aller amerikanischen Frauen mit Collegeabschluss hörte abends mindestens zwei Stunden Radio. Frühe Zuhörerumfragen in den USA ergaben, dass Frauen fast den ganzen Tag das Radio laufen ließen: »Oh, ich sag Ihnen, es ist Gesellschaft für mich - jemand, der die ganze Zeit bei mir im Haus ist.«137 Männer hörten hauptsächlich beim Frühstück und am Abend Radio. Kinder lagen nachts wach und grübelten über das nach, was sie tagsüber gehört hatten. Manche berichteten von Alpträumen, aber die meisten Eltern billigten die Hörgewohnheiten ihrer Kinder. Das Radio schien sowohl zu bilden als auch das häusliche Leben interessanter zu machen. Für viele war dies einer der Hauptvorzüge des Radios; es entspannte Konflikte, füllte die Stille und brachte die Familie zusammen: »Wenn wir es nicht hätten, hätten wir keine Familie.« 138

Adorno und das Radio

Kritik am Radio kam vor allem von der anderen Seite des Atlantiks, von wo sie der emigrierte jüdische Intellektuelle und Musiktheoretiker Theodor W. Adorno mitbrachte. Adorno hatte in New York beim Radioforschungsprojekt der Columbia University Zuflucht gefunden, das von der Rockefeiler Foundation finanziert und von einem anderen Emigranten, dem Wiener Paul Lazarsfeld, geleitet wurde. Hier festigte sich Adornos Auffassung vom »sozialen Autoritarismus« des Radios.139 Es ist eine aufschlussreiche Episode unserer Geschichte, und dies nicht nur, weil Adornos Ideen zu einem Grundpfeiler der marxistischen Kritik der Kulturindustrie werden sollten, die nach 1945, über das nach Frankfurt am Main zurückgekehrte Institut für Sozialforschung vermittelt, eine neue Generation von Gesellschaftskritikern maßgeblich beeinflusste. Darüber hinaus zeigt sie auch, dass der marxistische Fokus auf die Produktion zusammen mit einem tiefsitzenden europäischen Elitebewusstsein einen herausragenden Denker wie Adorno derart in die Irre führen konnte, dass er ein neues Medium der Konsumkultur völlig missverstand.

Für Adorno war Kultur eine ernste Sache, für Spaß blieb da wenig Platz. Wahres Zuhören bedeutete eine allumfassende kritische Beschäftigung mit der Musik als Gesamtkunstwerk. Alles andere war nur passive Unterhaltung. Es ging um mehr als nur schlechten Geschmack. In Adornos Augen war leichte, populäre Musik Bestandteil der kapitalistischen Strategie, allen Lebensbereichen einen kommerzialisierten Warencharakter aufzuzwingen und jegliche Kreativität und Freiheit auszutreiben. Von Massenware wie dem Gassenhauer »Yes, We Have No Bananas« war es aus seiner Sicht nur ein kleiner Schritt zum Faschismus.

In Adornos Fall stimmten Biographie und Theorie überein. Er war 1903 als Sohn der korsisch-italienischen Sängerin Maria Calvelli-Adorno, die unter anderem am Hof-Operntheater in Wien aufgetreten war, und des jüdischen Weinhändlers Oscar Wiesengrund geboren worden. In seinem Elternhaus in Frankfurt am Main drehte sich alles um das Klavier. »Teddie«, das einzige Kind, spielte Duette, lernte Geige zu spielen, besuchte das Konservatorium und komponierte Streichquartette und Klavierstücke.  Schüchtern und frühreif, wie er war, legte er sich die Maske des intellektuellen Künstlers zu - statt am Handgelenk trug er seine Uhr an einer Kette in der Hemdentasche. In seinen ersten Äußerungen als Musikschriftsteller mischte sich jugendliche Überheblichkeit mit der Überzeugung, nur wahre Kunst, die von bürgerlicher Sentimentalität unberührt sei, könne die Menschheit vor dem Untergang retten. Sogar Strawinsky ging ihm nicht weit genug; dessen Geschichte vom Soldaten verriss er als »tristen Bohemeulk «.140 Einzig die Zwölftonmusik versprach Rettung. 1925 ging er nach Wien, um bei Alban Berg zu studieren. Kurz, Adorno war das marxistisch gewendete musikalische Pendant zu Bruno Taut: Kommerzieller Tand und bourgeoiser Zierrat mussten verschwinden.

Das Radio, stellte Adorno fest, sei das »narkotische« Sprachrohr des bourgeoisen Systems. Es sei Teil »retrogressiver Tendenzen des Hörens, der Lawine des Fetischismus, welche die Musik überwältigt und unter der Moräne der Unterhaltung begräbt«. Solcher Snobismus irritierte Adornos Chef in New York, Lazarsfeld, derart, dass er sich zu der Frage hinreißen ließ, ob der wahre Fetischismus nicht vielleicht sein Hang zu grandiosen lateinischen Worten sei. Adorno war die Vorstellung zuwider, eine Bauersfrau könnte beim Abwaschen Beethoven hören. Das Radio zerstöre die Symphonie als Kollektiverlebnis. Es privatisiere das Musikhören und verwandle die Musik in eine Art Möbelstück. Klassische Musik werde »trivialisiert«, indem sie in wiedererkennbare Titelsongs aufgebrochen werde, die wie jedes andere »vorgefertigte Stückwerk ... mit einem Minimum an Anstrengung genossen werden können«. Im selben Maß wie die Kluft zwischen ernster und populärer Musik vergrößere sich der Abstand der Menschen von wahrem Bewusstsein und Freiheit. Was für Marx die Religion, war für Adorno die kommerzielle Kultur: Opium des Volks. Mit populärer oder, wie er sie nannte, »vulgärer« Musik, einschließlich des Jazz, lulle die bürgerliche Gesellschaft die Menschen ein und mache sie gefügig.141

Adorno war Theoretiker und kein empirischer Forscher. Im Rückblick am interessantesten ist vielleicht die Tatsache, dass seine Analyse ihrerseits Konformität hervorbrachte, die es vielen Angehörigen der nächsten Generation ermöglichte, vorgefertigte Urteile über die Konsumkultur wiederzukäuen. Deshalb ist es wichtig, hervorzuheben, wie weit er von der Wirklichkeit entfernt war. Wie amerikanische Forscher in den 1920er Jahren feststellten, waren Radiohörer überaus aktiv. Insbesondere bei Männern entfachte das Radio eine Liebe zur Musik. »Ich mochte Musik schon immer«, erklärte ein italienischer Schuhmacher, »aber ich konnte nie viel gute Musik hören und sie deshalb auch nicht richtig genießen. Aber dann begann ich Radio zu hören, und jetzt kenne ich die meisten der großen Werke. Ohne das Radio hätte ich sie nie so sehr genossen.« Zwar spielten manche nun weniger Klavier, weil ihnen ihre »eigenen Fehler jetzt zu deutlich bewusst« waren.142

Im Allgemeinen erhielt das Musikmachen durch Radio und Grammophon jedoch großen Auftrieb; neue Stilrichtungen des Jazz verbreiteten sich schneller, und die Zahl der Orchester nahm zu. Manchmal   wurden Schallplatten auch im Kampf gegen politische Machthaber eingesetzt, wie in Indien, wo die Nationalisten 1905 während der Trennung von Bengalen die Menschen zum Boykott britischer Waren aufriefen.

Statt der häufig befürchteten Gleichförmigkeit bot das Radio diversen Genres und Hörergemeinschaften, darunter viele Minderheiten, ein Forum. Ein in Norwegen arbeitender schwedischer Maschinist war tief bewegt, wenn er abends im Radio »Stockholm-Motola-Jönköping« einstellte und ein in seinem Kindheitsdialekt gesungenes Lied hörte. Viele Sender strahlten Regionalprogramme im jeweiligen Dialekt aus, bis der schwedische Staat sie 1935 übernahm.143 In Japan hielt das Radio traditionelle Instrumente und Erzählformen am Leben, in Malaya bewahrte es die Keronchong-Musik. In den Vereinigten Staaten verbreitete es den Blues und popularisierte Hillbilly- und rustikale Folkmusik. In den 1930er Jahren konnten schwarze Familien von schwarzen DJs aufgelegte schwarze Musik hören.144 Amerikanische Sender strahlten in einer einzigen Woche über dreißigtausend Stunden Musikprogramme aus.145 Das Radio förderte keine Gleichförmigkeit, sondern eine Fülle an Geschmacksrichtungen.

Wie und was die Menschen konsumierten, folgte keiner vorgegebenen Massenproduktionslogik. Adorno ließ außer Acht, was das Radio in der Seele der Menschen bewirkte. Radiohören war eine neue emotionale Erfahrung. Insbesondere Männern eröffnete es eine Welt der Gefühle. Manche frühe Hörer schalteten das Licht aus, um den Eindruck zu vergrößern. Die meisten hörten in der bequemen heimischen Umgebung zu, aber in jeder anderen Hinsicht war das Radio alles andere als privat.

Kommentatoren, die in den späten igioer Jahren voraussagten, seine Anziehungskraft sei auf »isolierte Personen wie Farmer, die Blinden und diejenigen, die nahezu taub sind«, beschränkt, wurden eines Besseren belehrt.146 Das Radio regte die soziale Vorstellungskraft an. Eine frühe Untersuchung der Radiopsychologie verglich die Hörer von Radioserien mit Menschen, die als Sehende lernen mussten, sich blind zu stellen und sich anhand des Gehörten ein Bild von der Welt zu machen. Ohne ein Orchester oder eine Gruppe von Schauspielern zu sehen, mussten sich die Zuhörer die Akteure und die Szenerie vorstellen. Diese Visualisierung stelle »in Erwachsenen etwas von der Lebendigkeit der Bilderwelt wieder her, die seit ihrer Kindheit verblasst ist«.147

Serien waren das neue Format des Radios. Wer tagsüber Serien höre, tue dies nicht wegen einer »Leere« in seinem Leben, stellte die Soziologin Herta Herzog, die zweite Ehefrau von Paul Lazarsfeld, fest; es gebe keinen Beleg dafür, dass Radiohörer aufhörten, in Klubs oder zur Kirche zu gehen. Vielmehr sei das Heim jetzt der Eingang zu einer virtuellen Welt. Das Radio schaffe ein Gefühl der Gemeinschaft mit Tausenden anderen, die sich dieselbe Sendung anhörten. Für manche seien Serien wie The Goldbergs - eine in den 1930er und 1940er Jahren täglich ausgestrahlte fünfzehnminütige Seifenoper über eine arme jüdische Familie in der Bronx - eine Flucht aus ihrer realen Familie. Für andere seien sie ein Trost; es sei erleichternd, zu wissen, »dass andere Menschen auch Probleme haben«. Die Figuren würden zu  Freunden, sogar besseren als die wirklichen: »Freunde sind so unberechenbar ... Aber Radiofiguren sind verlässlich.«148 Viele meinten, sie würden aus diesen Sendungen etwas über das Leben lernen, von gesellschaftlicher Etikette über Kindererziehung bis zu den Gründen, warum Ehemänner schlechtgelaunt   von der Arbeit nach Hause kamen. 149

Im 18. Jahrhundert hatte man dem »Beobachter« eine zentrale Rolle bei der Entwicklung der Höflichkeit zugeschrieben. Sich in einen anderen hineinzuversetzen sollte das Mitgefühl stärken. Man sollte sich selbst beobachten und seine Wirkung auf andere einschätzen. Beim Radio ging es nicht um Höflichkeit. Aber man könnte es als eine dem 20. Jahrhundert entsprechende Form des Beobachtens ansehen, als einen kulturellen Nachfolger von Tagebuch und Konversationsklub. In ihrer vom Radio erzeugten Vorstellung knüpften die Menschen neue soziale Solidaritätsbande und spielten soziale Rollen. Das Radiohören weitete den Horizont des Einzelnen, der die Freude und den Schmerz anderer, weit entfernter Menschen zu teilen lernte.“

 (Trentmann, Auszüge Seiten 351-360)    

 

    siehe auch meine Texte:
    Radio-Stimme - Die Technisierung der Stimme und die Dynamik des neuen Massenmediums MG-Link
    Rebellisches Radio -  Das Radio der 1950er als Medium einer rebellischen Popularkultur   MG-Link