Klaus Wolschner         Texte zur Geschichte und Theorie von Medien & Gesellschaft

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I
Medien-
Geschichte

 

2 AS Cover

Wie wir wahrnehmen,
was wir sehen
ISBN 978-3-7418-5475-0

2 VR Titel

Über die Mediengeschichte der Schriftkultur und ihre Bedeutung für die
menschliche
Wirklichkeits-Konstruktion im  Jahrhundert des Auges
ISBN 978-3-7375-8922-2
 

POP 55

Über traditionelle Herrschafts-Kommunikation
und neue Formen der Medien-Demokratie:
Wenn der Pöbel
online kommt
ISBN: 978-3-752948-72-1
 

2 GG Titel

Über religiöse Körpergefühle und die kommunikative Kraft
der großen Götter von Christentum, Islam und Moderne
ISBN 978-3-746756-36-3
 

 

Die Männer der Geschichte der deutschen Sprache

Von Meister Eckart bis Luise Pusch – ein ZEIT-Dossier von Matthias Heine

2022 

Der Reformator Martin Luther (1483-1546) hat mit seiner Bibelübersetzung einen großen Anteil an der „Erfindung der deutschen Sprache“. Hier soll – leicht gekürzt nach dem ZEIT-Dossier von Matthias Heine – an die Männer erinnert werden, die in der Sprachgeschichte große Bedeutung hatten. Die Frauen sind „mitgemeint“ – sowohl die Habsburgerin Maria Theresia wie Luise Pusch.
Kein einzelner Mensch hat den Gang der deutschen Sprache mehr beeinflusst hat als der Reformator mit seiner Bibelübersetzung. Deren erste Fassung erschien im September 1522. Mit ihr legte Luther den Grund dafür, dass in einem langen Prozess aus der Vielfalt regionaler Varianten des Deutschen so etwas wie eine überregionale Standardsprache entstand, die jeder - von Nordfriesland bis Tirol - verstehen kann.
Aber Luthers Deutsch etwa war erst 250 Jahre nach seiner ersten Bibelübersetzung die allgemein anerkannte Richtschnur. Dafür sorgten protestantische Schriftsteller, schlesische Barockdichter, Lessing, die Weimarer Klassik und ihre Zeitgenossen von Hölderlin bis Jean Paul. Große Bedeutung hatten die norddeutsch-protestantischen Universitäten. Und die wichtigen überregionalen Zeitungen und Zeitschriften erschienen in protestantischen Gebieten. Schließlich mussten Österreich und Bayern anerkennen, dass das lange verteufelte „evangelische“ Deutsch mittlerweile zum Standard geworden war.

Luthers Deutsch hatte nicht nur Auswirkungen auf den Wortschatz, den er mit Begriffen wie Feuereifer, Herzenslust, Machtwort, Schauplatz, geistreich, Sündenbock bereicherte, sondern auch auf Grammatik und Orthografie. Seine Rechtschreibung vereinheitlichte er mit jeder neuen Bibelausgabe im Zusammenspiel mit Wittenberger Druckern. Während er im ursprünglichen „Septembertestament" 1522 noch zwischen zeytt und zeyt oder vnnd und vnd geschwankt hatte, entschied er sich zunehmend für die jeweils kürzere Variante.
Sogar auf Wortformen wirkte das Bibeldeutsch: Das unbetonte e in der zweiten Silbe von Wörtern wie Sonne, Krone oder Seele war um 1500 in allen deutschen Mundarten verschwunden, nur nicht im ostmitteldeutschen Raum. Ohne Luther wären heute Sonn, Krön, Seel - wie man es noch oft in alten Liedern und Gedichten liest - der überregionale Standard.
Wegweisend war Luthers Entscheidung, das Deutsch der Kanzlei seines Dienstherrn, des Kurfürsten Friedrich des Weisen von Sachsen, zur Basis seiner Übersetzung zu machen. Die sächsische Kanzlei hatte im Schriftverkehr mit den Kanzleien anderer Fürsten und des Kaisers schon länger eine gewisse überregionale Verständlichkeit angestrebt. Auch der ostmitteldeutsche Dialekt, der in Sachsen gesprochen wurde, nahm eine ideale Mittelstellung zwischen oberdeutschen und niederdeutschen Sprachgewohnheiten ein.
Luthers Bibelübersetzung wäre wohl niemals so folgenreich gewesen, wenn er sie an einem anderen Ort oder mit einem anderen Dialekt als Grundlage verfasst hätte. Er selbst erklärte seine Entscheidung so: „Ich habe keine gewisse sonderliche, eigene Sprache im Deutschen, sondern brauche der gemeinen deutschen Sprache, dass mich beide, Ober- und Niederländer, verstehen mögen. Ich rede nach der sächsischen Kanzlei, welcher nachfolgen alle Fürsten und Könige in Deutschland."
Das war ein bisschen geflunkert. Derjenige, der dafür sorgte, dass irgendwann auch Fürsten und Könige ein einheitliches Hochdeutsch benutzten, war Luther.

Meister Eckhart (1260-1328)

Der Dominikanermönch, einflussreicher Prediger und Philosoph, um 1260 in Thüringen geboren, gilt als Begründer der deutschen philosophischen Fachsprache. Wie andere Mystiker des Mittelalters, wie auch Hildegard von Bingen und viele andere Frauen, wollte er eine große Erfahrung mit einer neuartigen Sprache beschreiben können. Die Erfahrung, die sich ihm in der mystischen Anschauung Gottes ergeben hatte.
Mit seiner Sprache ging Eckhart eigenständige Wege und fand ganz neue Möglichkeiten des Ausdrucks. Er gab dem Deutschen die Möglichkeit, abstrakte Begriffe mit den Suffixen –heit und -keit zu bilden. Als er das Wesen Gottes beschreiben wollte, kreierte er Ausdrücke wie Gottheit oder Unwandelbarkeit. Und damit auch den sprachlichen Handwerkskasten, der später für die deutsche Philosophie so grundlegend werden sollte. Um die Beziehung zwischen Gott und der Seele zu beschreiben, schuf Meister Eckhart neue Wörter, von denen viele bis heute in der deutschen Alltagssprache stecken. Eines der wohl bekanntesten ist Gelassenheit. Damit bezeichnete Meister Eckhart die Fähigkeit, vertrauensvoll loszulassen. Gelassenheit sei notwendig, um Gott zu erfahren. Auch Einfluss hat er geprägt.
In der Regel bevorzuge Eckhart schlichte Metaphern, die ein Gefühl von unvorstellbaren Weiten vermittelten. Da es für die mystische Gotteserfahrung nötig war, Geist und Seele von konventionellen Konzepten der religiösen Praxis zu befreien, erfand Meister Eckhart zudem eine ganze Reihe von Verben, die den Prozess der Negation beschreiben: zum Beispiel entbilden - für die Befreiung von einem alten Bild; entwerden für die der östlichen Meditation ähnliche Technik, mit der man den Geist in den Zustand des Nichts versetzt.  Gott bezeichnete Meister Eckhart als unausgesprochen, wesenlos und gar mit dem paradoxen Begriff Nicht-Gott. Zu seiner Zeit drückten alle Denker komplizierte Sachverhalte lieber auf Latein aus.
Meister Eckharts Selbstbewusstsein gefiel nicht allen: Er starb 1328 am Hof des Papstes in Avignon, während dort ein Ketzerprozess gegen ihn lief.

Martin Opitz (1597-1639)

Die deutsche Literaturgeschichte lässt sich einteilen in zwei Großepochen: vor Martin Opitz und nach Martin Opitz. Alles, was vor Opitz gedruckt und vor allem gereimt wurde, kommt einem Muttersprachler heute falsch vor. Denn: Nach dem Erscheinen von Opitz' „Buch von der Deutschen Poeterey" im Jahr 1624 schrieben die Deutschen jahrhundertelang so, wie Opitz es festgelegt hatte.
Und die Sprache der Literatur wirkte auf die allgemeine Vorstellung davon, was in der Standardsprache richtig und angemessen sei. Opitz' Buch erschien in Breslau, es beeinflusste zahlreiche bedeutende schlesische Dichter. So galt Schlesien einige Zeit als diejenige Gegend, in der das beste Deutsch geschrieben wurde. Opitz regelte den Reim und die Verskunst, indem er beispielsweise  forderte, diese müsse die natürliche Wortbetonung beachten (seither eine Selbstverständlichkeit). Hans Sachs hatte noch genannt und Bedarf auf der ersten Silbe betont. Auch unreine Reime wie Höhen/stehen verbot Opitz.
Willkürliche Wortkürzungen und Zusammenziehungen, mit denen Dichter vorher gern der Sprache Gewalt angetan hatten (eim statt einem), um Wörter in ihre Gedichte zu quetschen, verbannte er ebenfalls. Dies und manches mehr betraf zunächst nur die Dichtung, doch trug es zu einer Aufwertung des Deutschen als Literatursprache bei.
Opitz' Nachfolger als Sprachreformer und Präger der deutschen Sprache, Johann Christoph Gottsched, lobte 1739 in einer Rede zum 100. Todestag, Opitz habe das Deutsche erst auf ein Niveau gebracht, das den Ansprüchen an eine gehobene Sprache genüge. Damit habe er die Ablösung des Französischen, das im 17. und 18. Jahrhundert die Sprache der Gebildeten war, in Deutschland ermöglicht.

Johann Christoph Gottsched (1700-1766)

Er war ein Pedant und Besserwisser. Aber manchmal kommt eine Zeit, in der einer gebraucht wird, der sich ganz sicher ist, was richtig ist und was falsch. So war es Mitte des 18. Jahrhunderts, als sich der Schriftsteller, Literaturtheoretiker und Grammatiker Gottsched zum „Sprachmentor von ganz Deutschland" (so der Germanist Eric A.Blackall) aufschwang. Gottscheds wichtigste Mittel im Kampf um die Sprachhoheit waren seine sprachreformerische Deutsche Gesellschaft und eine Fülle von Schriften, deren wirkungsmächtigste die „Grundlegung einer deutschen Sprachkunst" von 1748 ist.
Im überregionalen Buch- und Zeitungsmarkt wurde damals immer dringlicher eine überregionale vereinheitlichte Schriftsprache benötigt. Zwei Jahrhunderte nach Luther stritten zwei protestantische Literaturlandschaften darüber, wer Vorbild für ganz Deutschland sein sollte: Schlesien, das nach Martin Opitz so viele führende Barockdichter hervorgebracht hatte. Oder Sachsen mit der boomenden Universitäts-, Literatur- und Buchhandelsstadt Leipzig. Dazu kamen noch Schweizer, Bayern und Österreicher, die ihre „Provinzial-Redensarten" (Gottsched) verteidigten.
Der Pastorensohn Gottsched, der aus Königsberg vor den Werbern des preußischen Militärs nach Leipzig geflohen war, beschrieb die Lage so: „Der verschiedene und widrige Gebrauch der Wörter und Redensarten in einer Sprache ist ein Beweis, daß man die Regeln noch nicht gefunden und festgesetzet hat, nach welchen man die Richtigkeit, des Ausdrucks zu beurtheilen pflegt."
Gottsched entschied den Streit gegen die Regionen - und für eine überregional einheitliche Schriftsprache. Eine Sprache, wie sie sich in Leipzig herausgebildet hatte. Denn dort mussten sich Menschen verständigen, die eigentlich unterschiedliche Dialekte sprachen. Maßgeblich für Gottsched waren zudem „die besten Schriftsteller". Seine Vorstellungen von „Reinlichkeit und Richtigkeit der Sprache" haben dazu geführt, dass wir heute Wörter wie bin, hin, von, Fluss und Schuss nicht mit langem Vokal sprechen, wie es die Schlesier taten. Oder Li-eb und Di-eb sagen, wie es Gottscheds Schweizer Widersacher Johann Jakob Bodmer propagierte. 
Gottsched setzte die Regeln für die Großschreibung der Hauptwörter (den Ausdruck erfand er) durch. Auch das Stammwortprinzip machte er endgültig zur Norm. Deshalb schreibt man rächen mit ä, weil es mit Rache zusammenhängt, auch wenn man es rechen ausspricht. Wie Duden oder Luther hat Gottsched nichts radikal Neues erfunden. Er orientierte sich an Vordenkern, etwa dem Rechtschreibtheoretiker Hieronymus Freyer und dem Grammatiker Justus Georg Schottelius. Und an teilweise schon etabliertem Sprachgebrauch.
Folgenreich war auch Gottscheds Plädoyer für Deutsch in der gehobenen Konversation - zu Zeiten, in denen Leibniz oder Friedrich der Große Französisch oder Latein bevorzugten, nicht so klar. Gottsched verbot sogar seiner Frau, französische Briefe zu schreiben; ihre Lehrer hatten ihr beigebracht, das sei vornehm.

Maria Theresia (1717-1780)

Nachdem Österreich am Ende des Ersten Schlesischen Krieges 1742 den größten Teil der reichen Provinz Schlesien an Preußen verloren hatte, leitete die Kaiserin Maria Theresia zahlreiche Reformen ein. Eine war die Einführung des Deutschen als Verwaltungssprache, auch in nicht deutschsprachigen Gebieten. Dazu musste sie allerdings erst einmal das österreichische Deutsch verbessern.
Denn die Sprache der Beamten, Verwaltungen und öffentlichen Institutionen im katholischen Österreich hatte in den 250 Jahren, die seit Luther vergangen waren, nahezu alle modernisierenden Entwicklungen im protestantischen Norden ignoriert. Das Ergebnis: Die Orthografie war verwildert, die Formeln veraltet, der Satzbau kompliziert und schwer verständlich. Sogar in den Zeitungen standen solche Sätze: „Nachdeme Ihre kaiserliche und Catholische Majestät/ Carl der Sechste/unser Allergnädigster Landsfürst und Herr/gestern/als den 2.6. Monats Jenner/dieses jüngst angetreteten 1712. Jahrs/glücklich dahier in der kaiserlichen Residenz angekommen; als haben  eute/Vormittags/nach 10. Uhr/Allerhöchst gedachte Kaiserliche und Catholische Majestät Dero prächtigsten Ritt nach der St.Stephons Dom-Kirchen in folgender Ordnung gehalten."
Zusammen mit der Einführung der allgemeinen Schulpflicht 1774 ließ die Kaiserin die Schriftsprache nach den Vorstellungen Gottscheds reformieren: Umständliche, überlange Sätze mit unnatürlicher Wortstellung nach lateinischem Vorbild, überflüssige Buchstaben und Bindestriche sowie doppelte Verneinungen waren von nun an nicht mehr das stilistische Ideal. Und: Man versetzte Beamte aus der  verlorenen Provinz Schlesien nach Galizien oder in die Küstenländer der oberen Adria, damit sie dort spracheinigend wirkten. Schlesien galt seit Martin Opitz' großem Reformwerk als sprachlich vorbildliche Landschaft. Von dort brachten die Reformer sogar ursprünglich niederdeutsche Luther-Wörter wie Lippe und Ziege mit, die süddeutsche wie Lefee und Geiß in der Schriftsprache verdrängten.
Maria Theresias Sohn Joseph II. erließ später weitere Sprachgesetze. Ohne die Einführung des „gottschedschen Deutschs" (siehe Johann Christoph Gottsched) verstünden Deutsche und Österreicher einander heute wohl nicht mehr so einfach.

Konrad Duden (1829-1911)

Als Konrad Duden 1854 seine Doktorarbeit über eine griechische Tragödie schrieb, musste er das noch auf Lateinisch tun: „De Sophoclis Antigona". Später wurde Duden einflussreichster Reformator der deutschen Sprache seit Martin Luther. Es hatte mit Dudens Zeit als Gymnasialdirektor in der thüringischen Kleinstadt Schleiz zu tun.
Sie lag, damals wie heute, im Grenzgebiet zu den Bundesländern Sachsen und Bayern. Die Rechtschreibung der Schüler dort wurde lange Zeit danach beurteilt, aus welchem Dialektgebiet der jeweilige Lehrer kam und wie die Menschen das entsprechende Wort in dieser Gegend aussprachen und schrieben. Duden wollte dieser Gepflogenheit eine einheitliche Rechtschreibnorm entgegenstellen. Aus Gründen der Gerechtigkeit. Er schaffte es, eine einheitliche Orthografie für das vereinigte Deutsche Reich durchzusetzen.
Doch das, was ihm zu Beginn seiner Laufbahn als Rechtschreibreformer vorschwebte, hatte vorerst wenig mit dem zu tun, was er später in seinem Wörterbuch propagierte. Duden war zunächst ein Radikaler. Auf der Berliner Konferenz zur „Herstellung größerer Einigung in der deutschen Rechtschreibung" im Jahr 1876 kämpfte er für ganz neuartige Regeln. Bei seinen orthografischen Ideen sträuben sich Sprachästheten heute die Haare. Duden gehörte zu einer Gruppe von Wissenschaftlern, die die Buchstaben v und ph durch  einheitliches f ersetzen wollten. Sie wollten außerdem das Dehnungs-h weitgehend abschaffen. Dann hätte man nicht mehr Vieh, sondern fi geschrieben. Auch die gemäßigte Kleinschreibung wollte er einführen. Pluralformen wie Theorieen und Sympathieen sollten immer mit Doppel-e geschrieben werden. Und es sollte nicht mehr du wäschst, sondern du wäscht heißen.
Reichskanzler Otto von Bismarck lehnte die Reformvorschläge rundherum ab. Allerdings ließ Duden sich vom „Eisernen Kanzler" nicht allzu sehr beeindrucken. Nur wenige Jahre später, 1880, veröffentlichte er das „Vollständige orthographische Wörterbuch der deutschen Sprache": die erste Ausgabe des Rechtschreibdudens.
Das Buch war verglichen mit heutigen Dudenausgaben ganz dünn, nur die Stammwörter sind darin verzeichnet. Trotzdem schuf Duden mit diesem Bändchen die Basis für eine einheitliche deutsche Rechtschreibung. 1902 wurden Dudens inzwischen sehr gemäßigte Regeln in Deutschland, Osterreich-Ungarn und der Schweiz für verbindlich erklärt. Als Duden im Jahr 1911 starb, hatte sein Wörterbuch schon acht Auflagen erreicht. Bis heute sind es 28
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Otto Sarrazin (1842-1921)

Er war ein hoher Beamter im preußischen Bauministerium und Schriftleiter - also Chefredakteur - zweier Fachzeitschriften über Bauwesen, Autor eines Verdeutschungswörterbuchs.  Lange Zeit war er auch Vorsitzender des Allgemeinen Deutschen Sprachvereins, einer der für das Kaiserreich so typischen Nichtregierungsorganisationen, die großen politischen Einfluss erlangten. Vor allem war er ein großer Strippenzieher und Aktivist für Sprachpurismus. Sarrazin und seine Mitstreiter setzten auf zahlreichen Gebieten durch, dass die von öffentlichen Institutionen bis dahin verwendeten Fremdwörter durch deutsche Ausdrücke ersetzt wurden. Auf seinen Druck hin übersetzte beispielsweise ein Ausschuss des Verbandes Deutscher Architekten- und Ingenieurvereine fast 1300 Fachbegriffe. Das betraf das Bauwesen, auch den Bereich der Eisenbahn. Aus der Barriere wurde die Schranke und aus dem Retourbillet die Rückfahrkarte. In der ersten Ausgabe von Dudens Wörterbuch 1880 stehen noch Perron und Coupe, die Wörter Bahnsteig und Abteil schlug Sarrazin erst sechs Jahre später als Verdeutschungen vor. Sie setzten sich durch.
Mit dem Kriegsausbruch 1914 steigerte sich Sarrazins Aktivismus allerdings zu einem nationalistischen Wahn. Er sah seinen Kampf gegen Fremdwörter als Kriegseinsatz an der Heimatfront an. Ausländisch zu sprechen galt als Verrat an der Heimatfront, Grußformeln wie Adieu! galten nun als undeutsch. Die lokalen  Zweige seines Sprachvereins erzwangen Änderungen von Orts-, Straßen- und Flurnamen. Sie erwirkten die Entfernung französischer Beschriftungen in der Öffentlichkeit und in Geschäften, die Änderungen von Speisekarten in Gaststätten und Gasthäusern (anders sollten Restaurants jetzt nicht mehr genannt werden). Aus dem „Cafe Piccadilly" am Potsdamer Platz in Berlin wurde das Vaterland".

Konrad Koch (1846-1911)

Konrad Koch war Lehrer. Und er war derjenige, der 1874 auf einem Exerzierplatz seiner Heimatstadt Braunschweig mit seinen Schülern das erste deutsche Fußballspiel ausrichtete, das historisch belegt ist. Man muss aber einräumen, dass Fußball und Rugby damals einander sehr ähnlich sein konnten.
Die Geschichte wird sehr frei in dem Kinofilm „Der ganz große Traum" erzählt, mit Daniel Brühl in der Hauptrolle als Konrad Koch. Dieser Konrad Koch hat die Sprachgewohnheiten des neuen Sports geprägt. Es begann ein Jahr nach dem Spiel auf dem Exerzierplatz. Da veröffentlichte Koch das erste deutschsprachige Fußballregelbuch. Er ersetzte die im Englischen üblichen Begriffe durch neue deutsche „Kunstausdrücke". Ecke für corner, Stürmer für forward, Freistoß für free-kick, Halbzeit für half-time oder abgeben beziehungsweise zuspielen für to pass. Koch wollte dem Vorwurf entgegenwirken, Fußball sei - im Gegensatz zum Turnen - ein „undeutscher" Sport. Wirksamer als das zunächst nur lokal bekannte Regelbuch wurde ein Aufsatz, den Koch 1903 in der Zeitschrift des Allgemeinen Deutschen Sprachvereins von Otto Sarrazin publizierte. Darin rügte er den Gebrauch „eingeschlichener" englischer Ausdrücke und mahnte den Gebrauch von richtigem Deutsch auf den Spielplätzen an. Im Anhang des Aufsatzes hatte Koch eine Liste mit Verdeutschungen für englische Fußballbegriffe zusammengestellt. Nicht alles setzte sich durch. Der Spielkaiser, kurz Kaiser, für captain schaffte es nicht in den Sprachgebrauch.
Viele andere Ausdrücke Kochs sind bis heute gebräuchlich. Etwa Abseits (pffside) oder Strafstoß (penalty kick). Die neue Fußballsprache wirkte zunächst nur in Preußen und Norddeutschland, den Wirkungsgebieten des von Koch inspirierten, 1890 gegründeten Deutschen Fußball und Cricket Bunds.
Das erklärt zum Beispiel, warum es bis heute fast nur im Süden Deutschlands Vereine gibt, die sich das englische Lehnwort Kickers als Namen ausgesucht haben. In der Schweiz sind noch viel eindeutigere Spuren der Fußballsprache vor Koch erhalten. In der Ersten Liga spielen die YoungBoys Bern, die Torhüter werden Goalie genannt. Im Nachbarland wurden auch viele andere Fremdwortverdeutschungen nie übernommen. Es ist bis heute ein wesentlicher Unterschied zwischen dem Schweizer Hochdeutsch und dem deutschen Deutsch.

Theodor Siebs (1862-1941)

Das Deutsche ist im Grunde ein süddeutscher Dialekt, der norddeutsch ausgesprochen wird. Verantwortlich dafür ist ein Mann, der auf der Nordseeinsel Norderney geboren wurde, im tiefsten friesischen Mundartgebiet: Theodor Siebs. Siebs begründete die einheitliche deutsche Rechtlautung, so, wie Duden die Rechtschreibung vereinheitlicht hatte.
Wenn heute Wörter wie König, traurig oder artig standardmäßig als Könich, traurich oder artich ausgesprochen werden und nicht Könik, traurik und artik wie im süddeutschen Sprachraum üblich, dann liegt das an Siebs. Während man seit dem 18. Jahrhundert recht einheitlich schrieb, sprach man noch lange Dialekt.
Im Gegensatz zu Vorgängern, die private Konzepte der Aussprache ersonnen hatten, orientierte sich Siebs an der Praxis und den Bedürfnissen der Schauspieler, die durch Deutschland reisten und den „Faust" nicht in Sachsen Sächsisch und in Bayern Bayerisch sprechen wollten. An sie richtete sich sein Buch „Die deutsche Bühnenaussprache", das 1898 erschien. Aber natürlich hoffte Siebs, dass es auf das ganze uneinheitliche Sprachvolk wirken und eine akzeptierte Standardaussprache schaffen würde. Mit jeder der zahlreichen Neuauflagen wurde es mehr und mehr verbindlich nicht nur für Schauspieler, sondern für alle, die öffentlich korrekt sprechen wollten. Entscheidend war schließlich, dass der 1923 gegründete Rundfunk sich an Siebs' Regeln orientierte.

Luise F. Pusch (geboren 1944)

Bis zum Jahr 1984 wussten in Deutschland nur wenige, dass sogar die Sprache ein Patriarchatsproblem hat. Das änderte sich, als die Sprachwissenschaftlerin Luise F. Pusch ihr Buch „Das Deutsche als Männersprache" veröffentlichte. Das Buch versammelte Aufsätze und Glossen zur fehlenden Repräsentanz von Frauen in der deutschen Sprache und zur androzentrischen Diskriminierung durch alte Sprachmuster, die Pusch seit 1979 verfasst hatte. Pusch, eine 1944 in Gütersloh geborene Sprachwissenschaftlerin, wurde mit diesem Buch zu einer Begründerin der „feministischen Linguistik", die heute an deutschen Universitäten längst etabliert ist, obwohl Pusch trotz ihrer Habilitation nie einen Lehrstuhl bekam.
Sie veröffentlichte mit anderen Wissenschaftlerinnen einige „Richtlinien zur Vermeidung sexistischen Sprachgebrauchs". Die bewirkten jedoch nicht annähernd so viel wie „Das Deutsche als Männersprache". Der Suhrkamp-Verlag verlegte es zu einem erschwinglichen Preis und zu einer Zeit, als der Besitz von Suhrkamp-Taschenbüchern noch Pflicht in einem von 1968 geprägten Bildungsbürgertum war. Es erreichte ein großes Publikum mit Hunderttausender-Auflagen, noch heute wird es immer wieder neu nachgedruckt. Um Frauen auch in der Sprache zu Geltung zu verhelfen, schlug Pusch zunächst vor, eine Professor oder die Schriftsteller zu sagen, wenn eine Frau gemeint ist. Später plädierte sie für das Binnen-I, das beispielsweise die Zeitung „taz" und die Zeitschrift „Emma" in Formen wie Lehrerlnnnen oder Schauspielerinnen nutzten. Inzwischen ist Pusch 78 Jahre alt, lebt in Hannover und Boston. Sie hält nun die geschlechterübergreifende Verwendung weiblicher Formen für die beste Lösung: das generische Femininum. Also: „Das ist ihr Recht als Mieterin" oder Professorinnen als allgemeine Pluralform (wobei Männer immer mitgemeint sind). Pusch hat eine Jahrzehnte andauernde Debatte angestoßen, die die deutsche Sprache inzwischen massiv beeinflusst.